Der Weg am Wasser

Der Kneipp-Meditationsweg in St. Radegund

« Wasser! Es ist nicht so, dass man dich
             zum Leben braucht – DU bist das Leben! »

Antoine de Saint Exupéry

Am Fuße des Schöckls gelegen und knapp 15 km von Graz enfernt, findet man St. Radegund.  Der Ort war während der K & K Monarchie ein beliebter Kurort und berühmt für seine Quellen. So  wurde 1841 die „1. Kaltwasseranstalt“ der Steiermark errichtet, ab 1864 erreichte der Boom rund um Radegund seinen Höhepunkt. Besonders der ungarische Adel und das Großbürgertum liebten diesen Ort in der grünen Steiermark. Prachtvolle Villen entstanden und Spazierwege – sogenannte Quellenwege – wurden angelegt. 22 der mehr als 160 Quellen, die aus dem Schöckl entspringen, wurden architektonisch gefasst und mit Namen versehen. Mit dem Ende der Monarchie verlor der Kurort St. Radegund an Glanz und Bedeutung. Zwar gibt es nach wie vor ein Rehabilitationszentrum und eine Privatklinik, die glanzvollen Zeiten sind jedoch vorbei.

Spätsommer 2012. Ich habe mich auf den Weg gemacht, einer der Quellenwege zu gehen. Genauer gesagt den Kneipp-Meditationsweg. Von Graz kommend sehe ich schon von weitem den Schöckl. Mit seinen 1445 Metern ist der Hausberg der Grazer der höchste Berg im Grazer Umland. Am Himmel schweben Paragleiter, wie Raubvögel ziehen sie ihre Kreise. Ich kurve die steile Straße hinauf zum Ort und parke direkt beim Kurhaus
St. Radegund. Mein Weg führt mich zur Talstation der Schöcklbahn, denn dort beginnt der Kneippweg. Vorbei an den Villen, den Pensionen und Gasthäusern, deren Namen stumme Zeugen einer vergangene Zeit sind  – auch heute noch verköstigt das Gasthaus Budapest hungrige Kurgäste, Wanderer und Urlauber.

Talstation Schöcklbahn: Beide Parkplätze sind besetzt und noch immer kommen Ausflügler, die das sonnige Wochenende für eine Wanderung nutzen möchten. Aus einem Autobus aus Ungarn steigt eine Reisegruppe. Anscheinend wollen sie mit der Gondelbahn den Schöckl „erklimmen“. Ob sie wissen, dass St. Radegund während der K&K Monarchie bei ihren Landsleuten sehr beliebt war? Ein Paragleiter setzt zur Landung in der Wiese an und die nächste Gondel schwebt sanft in die Höhe. Hektik, lautes Rufen, das Brummen der Autos und das Surren der Drähte sind die dominierenden Geräusche. Ich überquere die Straße und sehe das erste Hinweisschild: Kneipp-Meditationsweg. Ich bin richtig.

Am Beginn des Weges ist ein sogenanntes Heilkunstwerk angelegt. Bernhard Haas, ein Landschaftskünstler, hat mit „Pflanze Mensch“ einen begehbaren Kräutergarten in Menschform geschaffen.  Das Interessante daran ist, dass die heilenden Kräuter genau dort gepflanzt wurden, wo sie wirken. Ich bestaune das Kunstwerk, im hohen Gras zirpen die Grillen und im nahen Wald höre ich das Klopfen eines Spechts.

Der Wald umfängt mich bereits nach ein paar Schritten mit seiner Kühle und seinen Gerüchen. Es riecht nach Pilzen, nach trockenem Laub, Tannennadeln. Der Lärm der Welt wird leiser und das Rauschen eines Baches, der ganz in der Nähe fließt, wird lauter. Das muss eine der Quellen sein. Waldklee formt grüne Inseln im braunen Laub, Wurzeln bilden geometrische Muster am Waldboden und Efeu rankt sich an den Baumstämmen hoch. Es sieht aus, als hätten manche Bäume grüne Mäntel übergezogen. Alles ist so grün, so still – und so friedlich.

Je weiter ich den Weg gehe, desto weniger Geräusche gibt es. Nicht weil der Wald alles schluckt, sondern weil ein Geräusch alle anderen übertönt: das Rauschen der Bäche. War es zu Beginn nur einer, sehe ich jetzt drei, die den Berg herunter fließen. Die Hektik der Welt, die Geräusche der Menschen sind mit einem Mal ganz weit weg. Mit jedem Schritt bekomme ich eine Ahnung meines eigenen Rhythmus – einatmen, ausatmen, ein Schritt nach dem anderen.

Die erste gefasste Quelle, die ich erreiche, ist die Desirée-Quelle. Ich trinke daraus, ihr Wasser schmeckt rein und frisch. Ihr wird nachgesagt, dass sie belebend auf die Nerven wirkt und da vor allem das vegetative Nervensystem positiv beeinflusst. Bevor ich weitergehe, nehme ich noch einen Schluck – es kann ja nicht schaden, wenn das Nervenkostüm gestärkt wird. Immer mehr Quellen kommen den Berg hinab, vereinigen sich zu einem Bach. Bienen und Hummeln schweben beinahe lautlos von Blüte zu Blüte. Johanniskraut, Enzian, Schafgarbe, Taubnesseln wachsen am Wegesrand.

Vorbei an einem Kraftort, an dem quadratische Steine zum Sitzen, Nachdenken und Meditieren einladen, komme ich zur Quelle der ungarischen Madonna. Dieses Bildnis der ungarischen Landespatronin ist ein Rest jener vergangenen Zeit, als ungarische Kurgäste zum Stammklientel Radegunds gehörten. Dieser Quelle sagt man nach, dass sie heilend auf Herz und Lunge wirkt. Der Platz lädt zum Rasten und Wahrnehmen ein. Es sind Blumen gepflanzt, eine Gießkanne zeugt davon, dass hier regelmäßig jemand vorbei kommt. Ein bunter Blumenstrauß im Becken der Quelle regt meine Phantasie an: Hat hier jemand um Heilung gebetet? Oder um ein Wunder? Vielleicht wollte sich jemand einfach nur bedanken für das Wunder Leben. Ich bin gefangen von diesem Ort und seiner friedvollen Ausstrahlung.

Zwei Spaziergängerinnen kommen mir entgegen – fröhlich grüßen sie mich und wandern weiter. Ich gehe bergab, vorbei an der Rosaquelle, die Erdung und Lebenskraft vermittelt, weiter zum Wunschstein. Man sagt dem Wunschstein nach, dass er Wünsche erfüllt. Ich hab es versucht: Draufsetzen, Augen zumachen und den Wunsch visualisieren. Noch warte ich auf die Wunscherfüllung, aber man muss auch Wünschen Zeit geben sich zu realisieren… Die hölzerne Duschanlage, gleich hinter dem Wunschstein soll gute Heilerfolge bringen. Aber Quellwasser mit einer gefühlten Temperatur von fünf Grad – brrrrr, das ist nicht meine Sache.

Trotzdem, ganz lässt mich die Idee vom Kneippen nicht los und so ziehe ich bei der Wassertretstelle kurz unterhalb des Wunschsteins die Schuhe aus und steige durch das eiskalte Wasser. Ordentlich treten, Knie hochziehen und ein paar Mal auf und ab gehen. Nach einer halben Minute – länger war es nicht – spüre ich meine Füße nicht mehr, ich fühle mein Herz klopfen und will nur mehr aus dem kalten Wasser. Füße an der Luft trocknen lassen und dann wieder ab in Socken und Schuhe. Nachdem das Kältegefühl nachgelassen hat, fühle ich mich frisch und belebt. Natürlich probiere ich auch den Armguss aus, das ist viel angenehmer – anscheinend bin ich auf den Armen nicht so kälteempfindlich.

Ich gehe am Bach entlang, der mit seinem Gurgeln und Glucksen nach wie vor die Geräuschkulisse bestimmt. Steinpyramiden stehen an seinen Rändern. Wer hat sie wohl aufschichtet? Spielende Kinder, Wanderer bei der Rast? Ich weiß es nicht. Diese Steinpyramiden wirken auf mich wie Denkmäler auf Zeit. Wenn der Bach das nächste Mal über seine Ufer steigt, wird er sie umwerfen und so Platz für Neues schaffen. Eigentlich ist es wie im Leben: Manchmal muss man Platz schaffen, um Neues kreieren zu können.

Plötzlich schrecke ich aus meinen Gedanken hoch, als neben mir ein Vogel aus dem Gebüsch hochfliegt. Es ist so, als ob er mich daran erinnern will, dass ich weitergehen soll. Vorbei an der Pollakquelle, vorbei an der Demelius-Quelle. Der Pollakquelle wird nachgesagt, dass sie für Kopf und Augen Heilung bringt. Ich habe gelesen, dass man, wenn man damit die Augen benetzt, besser sehen soll. Ich habe vergessen es auszuprobieren…

Und dann stehe ich wieder am Rande des Waldes. Vor mir eine Wiese mit den Blumen des Spätsommers, Obstbäume säumen den Weg, der mich zu meinem Auto bringt. Die Realität hat mich wieder. Und auch die
Geräusche des Alltags. Schon wenige Schritte nachdem ich dem Wald verlassen habe, hört man das ferne Rauschen der Autos. Aus einem Fenster höre ich Musik Wolken am Himmel verdecken das Blau und ein leichter Wind bringt die Blätter der Obstbäume zum Tanzen. Ich schaue hinauf zum Schöckl und sehe drei, vier, nein fünf Paragleiter. Sie drehen ihre Runden, es sieht aus wie ein himmlischer Tanz. Die Turmuhr der Kirche schlägt zwei Uhr. Es ist Zeit nach Hause zu fahren.